Die verlorene Barmherzigkeit
du
Weigere dich nicht, dem Bedürftigen Gutes zu tun,
wenn deine Hand es vermag.
Spr 3,27
Dr. Gerhard Trabert ist Gründer des Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschland“. Er gehört nicht zu denen, die wegschauen. Er wartet auch nicht, bis die Leute zu ihm kommen. Wenn er sie auf der Straße liegen sieht, geht zu ihnen und fragt sie: „Brauchen Sie Hilfe?“
Als er gefragt wurde, ob er sich an einen Fehler erinnern könne, erzählt er:
„Als ich 2017 in Mossul war, im Irak, kam am ersten Tag ein schwer verletzter Zivilist, der in eine Sprengfalle geraten war. Blutverschmiert lag er auf der Bahre, der linke Oberschenkel war fast abgetrennt. Er greift an meine Hose. Ich merke, wie ich denke, oh, ich hab nur die eine Hose dabei ... und streife seine Hand weg. Dann intubieren wir, er nimmt erneut meine Hand. Ich habe noch keine Handschuhe an und denke, Mist, die ist jetzt auch blutverschmiert. Streife seine Hand wieder weg. Später habe ich gedacht: Was hast du da eigentlich getan? Dieser Mann hat Angst gehabt zu sterben! Er wollte Berührung, und du hast sie ihm aus Sorge um deine Hose und Infektionsängsten nicht zugestanden. In diesem Moment habe ich als Mensch versagt.“
Der russische Schriftsteller Daniil Granin machte nach einem Sturz auf offener Straße die Erfahrung, dass ihm keiner half. Daraufhin gründete er einen Verein für Barmherzigkeit. In seinem Buch „Die verlorene Barmherzigkeit“ zieht er später ein nachdenklich machendes Fazit:
„Von einem bestimmten Zeitpunkt an wurde es klar, dass die tägliche Arbeit der Barmherzigkeit von Menschen Eigenschaften abverlangte, die in unserer Wirklichkeit nicht heranwachsen konnten. Aber der gläubige Mensch weiß, dass alle Taten dem Allmächtigen bekannt sind. Die Liebe ist hier sowohl Ausdruck als auch Beweis des Glaubens.“